Veränderung ist eine Haltungsfrage – spätestens wenn es komplex wird
Haltung wirkt. Ob wir wollen oder nicht.
In Veränderungsprozessen wird häufig nach dem passenden Tool gesucht: Methoden, Modelle, Frameworks. All das hat seinen Platz. Doch noch viel zu selten wird gefragt: Mit welcher Haltung begleiten wir eigentlich Veränderung?
In der systemischen Beratung betrachten wir Haltung nämlich nicht als „weichen nice-to-have-Faktor“, sondern als zentrales Wirkprinzip. Unsere Haltung bestimmt, wie wir beobachten, kommunizieren, intervenieren – ob bewusst oder unbewusst. Sie ist das Fundament der Wirkung von Interventionen.
„Die Haltung, mit der wir begleiten, ist oft wirksamer als das, womit wir begleiten.“
Haltung zeigt sich in der Art, wie wir in Kontakt treten und unterwegs bleiben (insbesondere dann, wenn es ruckelt). Wie wir Unsicherheiten begegnen. Wie wir mit Widersprüchen leben. Und ob wir dem System Organisation oder Team zutrauen, beste Lösungen selbst zu entwickeln. Oder ob wir implizit doch immer wieder „besser wissen“, was zu tun wäre.
Mechtild Erpenbeck beschreibt in einer ihrer Veröffentlichungen Haltung als einen inneren Ort, aus dem heraus wir handeln. Dieser Ort ist das Ergebnis vielfältiger Erfahrungen, Werte, Krisen, Entscheidungen – kondensiert zu einem persönlichen Resonanzraum. Und kann sich im Laufe der Zeit natürlich immer wieder wandeln. Haltung ist, wie sie sagt, ein Hybrid: Sie ist fundiert durch Wissen, konstituiert durch Werte, konsolidiert durch Erfahrung – und disponiert durch Kompetenz.
Haltung ist damit auch immer ethisch verankert. Doch nicht im Sinne starrer Prinzipien. Es geht vielmehr um die bewusste, reflektierte Orientierung an Leitideen, die immer wieder infrage gestellt werden können – und sollen. Haltung bedeutet dadurch auch, die Bereitschaft, sich selbst in Bewegung zu halten. Diese Sichtweise entzieht sich automatisch der Idee von „richtiger oder falscher Haltung“. Systemische Haltung ist eine zirkuläre Praxis der Selbstbeobachtung, die uns befähigt, nicht nur mit anderen, sondern auch mit uns selbst in einem Lernprozess zu bleiben. Und genau das macht Haltung so relevant für die Begleitung von Change:
Denn wenn wir Veränderung begleiten wollen, müssen wir selbst auch immer wieder bereit sein, uns zu verändern und zu entwickeln – in der Art, wie wir wahrnehmen, denken, deuten und handeln.
Dieser Artikel ist also auch als Reflexionsreise zu den eigenen Haltungen gedacht und um das zu unterstützen, gibt es zwischendurch immer wieder ein paar Reflexionsfragen – zum Innehalten, zum Nachdenken und Reinspüren und vielleicht sogar als Impuls, die eigene Haltung anzupassen und neu zu kalibrieren.
Hier kommen schon die ersten Impulsfragen zum Thema Haltung als Change-Begleiter:
- Was ist der innere Ort, aus dem heraus ich in Veränderungsprozesse gehe?
- Welche Werte prägen meine Haltung – und welche davon nehme ich als selbstverständlich?
- Wie bereit bin ich, meine Überzeugungen infrage zu stellen, wenn das System anders funktioniert, als ich es erwarte?
In unserer Change-Ausbildung & Teamcoach-Ausbildung arbeiten wir übrigens intensiv mit 14 Haltungen, die wir heute mal in der über vier Haupt-Zugänge systemischer Haltung in der Veränderungsbegleitung erkunden möchten.

Die eigene Rolle klären – Haltung zur eigenen Wirksamkeit
Nichtwissen | Irritieren statt steuern | Nahbare Distanz | Prozess UND Inhalt
Systemische Beratung beginnt mit einer einfachen, aber herausfordernden Einsicht: Ich weiß es ganz bestimmt nicht besser als das System selbst. Diese Haltung des Nichtwissens verlangt Zurückhaltung, die nicht aus der Unentschlossenheit entsteht, sondern aus Respekt. Respekt vor der Eigenlogik des Systems, vor seinen Mustern, seiner Geschichte, seinen blinden Flecken. Wir bringen als Berater*innen keine Lösungen „von außen“ mit. Wir gestalten Räume, in denen das System beginnen kann, sich selbst zu beobachten – und dadurch neue Handlungsoptionen zu entwickeln. Unsere Interventionen sind Angebote. Also Hypothesen und keine Wahrheiten.
In diesem Kontext gewinnt die systemische Praxis der Irritation an Bedeutung:
Eine Irritation ist kein zufälliger Impuls, sondern ein zielgerichtetes Angebot, das System dazu einzuladen, seine eigene Stabilität infrage zu stellen. Sie erfolgt nie absichtslos – sondern mit einem „Wofür“ im Blick. Wir hoffen also, dass unsere Verstörung eine zieldienliche Wirkung entfaltet. Wichtig: Ob eine Irritation „verfängt“, entscheidet allein das Gegenüber. Das System selbst wählt aus, was es aufnimmt – und was nicht. Und auch das Nicht-Aufnehmen ist wirksam: Manche Irritationen stabilisieren genau dadurch, dass sie abgelehnt werden. Das System bestätigt sich selbst – bewusster als zuvor. Und das kann ausgesprochen hilfreich und sinnvoll für das System sein. Veränderung geschieht also nicht, weil ich irritiere – sondern weil das System sich berühren lässt.
Damit solche irritierenden Interventionen wirken können, braucht es Distanz – (die nichts mit Kälte zu tun hat…). Als systemische Berater*innen verhalten wir uns nahbar im Kontakt, verlieren aber nie die professionelle Distanz und werden dabei auch nicht Teil des Systems. Wir spiegeln, anstatt mitzuspielen. Wir beobachten ohne Verstrickung. Das bedeutet auch: Wir dürfen uns berühren lassen, aber wir lassen uns nicht vereinnahmen. Nur so können wir gleichzeitig empathisch und wirksam bleiben.
Als Systemische Berater*innen steuern wir deshalb auch keine Inhalte, sondern gestalten Räume. Und dafür wiederum braucht es ein tiefes Verständnis von Dynamiken, Lernprozessen, Zeitverzögerungen und der inneren Logik von Veränderung. Kurz gesagt: Prozesskompetenz. In Veränderungsprozessen ist dies vor allem bei aufkommender Unsicherheit entscheidend, denn Nicht jede Stagnation ist ein Zeichen von Scheitern, nicht jede Unsicherheit verlangt nach einem Richtungswechsel, nicht jedes Symptom braucht eine schnelle Lösung. „Trust the Process“ heißt: zu wissen, dass Veränderung in Schleifen verläuft – und dass unsere Rolle darin besteht, Stabilität und Irritation in ein produktives Gleichgewicht zu bringen. Darüber habe ich übrigens kürzlich einen Beitrag geschrieben (Blogartikel Trust the process).
Übrigens: Systemisches Arbeiten und Prozesssicherheit bedeutet nicht, den Inhalt zu ignorieren, sondern sich klug darauf einzulassen. Nur wer das Kundensystem in seiner Sprache, Logik und Realität ernst nimmt, kann passende Fragen stellen – und relevante Irritationen anbieten.
Gerne stelle ich dir dazu nun wieder ein paar Impulsfragen:
- Wo habe ich zuletzt aus dem Impuls heraus „gesteuert“, statt eine Irritation zu setzen?
- Was war meine Absicht hinter der letzten Intervention – Stabilisieren oder Destabilisieren?
- Wie gelingt es mir, präsent zu bleiben, ohne mich ins System hineinziehen zu lassen?
- Woran erkenne ich, dass ich gerade in der Prozessbegleitung – nicht im Lösungsmodus bin?
Die Dynamik verstehen – Haltung gegenüber Komplexität
Anerkennung von Paradoxie | Arbeiten am Ist | Planvolle Flexibilität | Denken in Mustern
Veränderung in Organisationen ist – entgegen vieler anderslautender Frameworks und Modelle – kein linearer Prozess. Wer versucht, Organisationen wie ein Uhrwerk, das man neu justiert, zu verändern, wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Denn Organisationen sind keine Maschinen und können auch nicht wie diese von außen gesteuert werden. Sie sind soziale Systeme, die sich durch Kommunikation selbst organisieren, ihre Wirklichkeit erzeugen und sich dabei ihrer eigenen systeminternen Logik folgen.
Um es nochmals zu wiederholen: Systemisches Denken geht davon aus, dass Organisationen NICHT gesteuert werden können – zumindest nicht im klassischen Sinne. Stattdessen kann man sie aber vortrefflich beobachten, beeinflussen und irritieren. Deshalb braucht systemische Veränderungsbegleitung gleichzeitig auch eine besondere Haltung zur Komplexität. Sie bedeutet: nicht simplifizieren, sondern Muster erkennen. Nicht entscheiden, ob etwas stimmt, sondern reflektieren, für wen es Sinn ergibt. Und: Paradoxien nicht auflösen wollen, sondern besprechbar machen. Denn in Organisationen herrschen keine klaren Gegensätze, sondern dauerhafte Spannungsverhältnisse. Stabilität vs. Veränderung. Kontrolle vs. Vertrauen. Individualinteressen vs. Organisationserfordernisse. Kundenorientierung vs. Effizienz. Diese Spannungsfelder lassen sich nicht „lösen“ – und sie sollten es auch nicht. Denn sie sind nicht das Hindernis, sondern die Voraussetzung für organisationales Lernen. Paradoxien sind ein Organisationsprinzip und nicht als Problem.
Der Organisationssoziologe Stefan Kühl bringt es präzise auf den Punkt: „Organisationen bestehen aus Widersprüchen. Wer sie zu schnell auflösen will, erzeugt neue Probleme.“ Systemische Haltung heißt: die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Anforderungen akzeptieren und Führungskräfte und Teams dazu befähigen, mit diesen Spannungen produktiv umzugehen. Nicht durch Harmonisierung, sondern durch Dialog und Differenzierung. Ein häufiger Fehler in Change-Prozessen ist deshalb der Versuch, Eindeutigkeit herzustellen. Systemisch wirksam zu beraten bedeutet, Spannungen offen im System zu halten – damit sie bearbeitet, nicht verdrängt werden.
Ein Praxisbeispiel: Ein Unternehmen möchte innovativer werden, ohne seine Effizienz zu verlieren. Statt sich für das eine oder das andere zu entscheiden, arbeitet der Change-Prozess mit der Frage: „Wie können wir Räume für Kreativität schaffen – ohne unsere Kernprozesse zu gefährden?“ Hier wird nicht versucht, den Widerspruch aufzulösen, sondern die Spannung sichtbar und gestaltbar zu machen.
Denken in Mustern – statt in Einzelfällen oder Ursachen
Ein weiterer Aspekt in der systemischen Change-Beratung ist die Blickrichtung: Systemisches Denken richtet den Blick nicht auf das Was – sondern auf das Wie des Was. Nicht das Einzelereignis steht im Fokus, sondern das wiederkehrende Muster, das es erzeugt hat – und weiterhin erzeugt. Dazu gehören Fragen wie: Wie wird kommuniziert? Welche Entscheidungslogiken sind etabliert? Wie wird mit Abweichung umgegangen? Welche Rituale stabilisieren bestehende Routinen? Diese Muster sind oft unsichtbar, weil sie Teil der organisationalen Selbstverständlichkeit geworden sind. Sie wirken normal und werden im System selten noch hinterfragt. Veränderung bekommt dann einen guten Nährboden, wenn diese Muster sichtbar und reflexiv beschreibbar werden. Nicht bewertet, sondern befragt. Nicht verändert im Sinne von „wegmachen“, sondern verstanden im Sinne von „wozu dient das eigentlich?“.
Ein Beispiel aus der Beratungspraxis: In einer Organisation wird immer wieder über mangelnde unternehmerische Verantwortung bei den Führungskräften geklagt. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein Muster: Entscheidungen werden häufig „nach oben eskaliert“, weil Fehler in der Vergangenheit stark sanktioniert wurden. Als systemische Change-Begleiter vermeiden wir es, das Problem zu individualisieren („Die Teams müssen eigenständiger arbeiten“ / „Die Führungskräfte müssen endlich unternehmerische Entscheidungen treffen lernen“), sondern interessieren uns für das zugrundeliegende Muster: „Wie entsteht das Bedürfnis, Entscheidungen abzusichern? Welche Funktion erfüllt das?“ Dieses Denken in Mustern eröffnet Veränderungsmöglichkeiten – nicht, indem es Verhalten „optimiert“, sondern indem es dessen Logik transparent macht und die „Gewinne“ sichtbar macht.
Ein Grundprinzip, das also aus all diesen Gedanken folgt: Der Weg kann nur im Gehen gestaltet werden. Es braucht planvolle Flexibilität. Das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun. Es geht um eine Haltung der bewussten Offenheit. Wir arbeiten mit einem klaren Rahmen, gestalten aber den Weg darin iterativ. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Steuerung und Prozessbegleitung. In der Sprache des „Trust the Process“-Gedankens: Veränderung braucht ein stabiles Gefäß ohne starre Agenda.
- Impulsfragen für unterwegs:
Wo in meiner Begleitung versuche ich gerade, Paradoxien zu „lösen“, statt sie offenzuhalten? - Welche Muster erkenne ich – und wie kann ich sie beschreibbar machen, ohne sie zu bewerten?
- Was braucht dieses System gerade: Stabilisierung oder Irritation?
- Wie offen ist mein eigener Beratungsprozess für Überraschungen?
Den Kontakt gestalten – Haltung im Miteinander
Wertschätzung | Neugierde | Allparteilichkeit | Kontakt³
Veränderung ist neben aller Prozesskompetenz nicht nur ein struktureller, sondern immer auch ein zwischenmenschlicher Prozess. Ohne tragfähige Beziehungen bleiben Interventionen an der Oberfläche. Ohne echten Kontakt entsteht keine Resonanz. Und ohne Resonanz bewegt sich wenig. Systemische Veränderungsbegleitung bedeutet deshalb: Beziehungsarbeit mit Haltung. Diese Haltung im Miteinander ist mehr als nur Empathie oder Zugewandtheit. Sie ist auch ein sie ist ein bewusst eingenommener Raum, in dem Unterschiedlichkeit nicht überbrückt, sondern wahrgenommen, ausgehalten und in den Dialog gebracht wird. Dabei geht es nicht um Harmonie. Sondern um ein Klima, in dem Unterschiede nebeneinander stehen dürfen, ohne immer sofort aufgelöst werden zu müssen.
Eine wertschätzende Haltung heißt dabei keinesfalls, alles gut zu finden. Sie heißt, zunächst zu beschreiben, was ist – ohne vorschnell zu werten. Dort, wo viele Beratungsansätze in Interpretation, Deutung oder Diagnose verfallen, bleibt die systemische Haltung beim Beobachten und Beschreiben. „Ich nehme wahr, dass die Stimmung im Team angespannt ist.“ ist etwas anderes als „Sie wirken wenig kooperativ.“ Wertschätzung zeigt sich auch in der Sprache. Und darin, wie wir mit Wahrnehmungen umgehen und diese nicht mit Wahrheit verwechseln.
Zur Wertschätzung gesellt sich dann noch die Neugier als ernst gemeinte Erkundung. Dazu gehört auch die Bereitschaft, das Unverständliche für einen Moment als sinnvoll zu betrachten. Denn in einem sozialen System gibt es keine dysfunktionalen Verhaltensweisen – nur welche, deren Funktion (noch) nicht sichtbar ist. „Das ergibt doch keinen Sinn!“ ist oft nur eine andere Form von: „Ich habe den Kontext noch nicht verstanden.“ Diese Form von Neugier verlangt, die eigenen Erklärungen zurückstellen zu können und sich für das Fremde im Gegenüber zu interessieren. Auch dann, wenn es irritiert. Gerade dann.
Dabei hilft es auch, eine innere Haltung der Allparteilichkeit zu etablieren. Es ist die Kunst, Unterschiedliches nebeneinander zu halten. In Change-Prozessen entstehen unweigerlich immer auch Konflikte.
Systemische Haltung bedeutet hier: sich keiner Seite anschließen – aber jeder Seite Raum geben. Nicht neutral bleiben, sondern gleichzeitig mit mehreren Wahrheiten im Raum präsent sein. Wer allparteilich ist, schafft einen Raum, in dem sich Gegensätze nicht bekämpfen müssen – sondern sich gegenseitig als relevant anerkennen können. Das ist besonders in Spannungsfeldern zwischen Mitarbeitenden und Führungskräften entscheidend: „Wie können wir beispielsweise eine Lösung entwickeln, in der beide Anliegen – Orientierung und Autonomie – ihren Platz finden?“ Also ein komplexeres sowohl-als-auch zu erkunden, statt dem schnellen Entweder-oder den Vortritt zu geben.
Ein Beispiel aus der Praxis:
In einer Bereichsleitung herrscht spürbare Spannung. Die Führungskraft spricht von mangelndem Engagement im Team, das Team wiederum fühlt sich kontrolliert und nicht ernst genommen. Der Reflex wäre: Mediation, Klärung, Lösung. Die systemische Haltung aber erlaubt zunächst etwas anderes: Wahrnehmung. Benennung. Spiegelung. „Ich nehme wahr, dass hier im Raum viele unterschiedliche Wahrheiten existieren. Ich würde gerne mit Ihnen gemeinsam herausfinden, was jede Seite im Moment braucht, um sich gesehen zu fühlen.“
Für diese Herangehensweise braucht es bei uns Change-Begleiter*innen die Fähigkeit, die zwischenmenschliche Beziehung als Resonanzraum für Veränderung anzubieten: sozusagen Kontaktkompetenz³. Kontakt heißt: präsent sein. Kontakt heißt: den anderen wirklich sehen. Kontakt heißt auch: sich selbst mit in den Raum bringen – nicht als Expert*in, sondern als Mensch in Beziehung. Ein zentraler Gedanke aus dem systemischen Denken zur Wirkung von Haltung lautet sinngemäß: Alles, was ich denke, fühle oder sage, wirkt im Kontakt – ob ich will oder nicht. Wir sind immer Teil des Beziehungsgeschehens. Es gibt kein „Draußen“ im sozialen Raum. Deshalb ist Haltung im Miteinander nicht optional – sie ist die Grundlage unserer Wirksamkeit.
Ein oft übersehener Aspekt: Der Kontakt zum Gegenüber ist immer auch abhängig vom Kontakt zu sich selbst. Selbstkontakt als die vergessene Dimension. Wenn ich als Berater*in innerlich abwesend bin, getrieben, unklar – wie soll dann Beziehung entstehen? Deshalb ist Selbstwahrnehmung zentral: Wie bin ich gerade im Raum? Was bewegt mich – auch unbewusst? Wo reagiere ich statt zu resonieren? „Wie ich in Kontakt gehe, entscheidet mit darüber, ob mein Gegenüber sich überhaupt bewegen kann.“
Dazu wieder ein paar Impulsfragen:
- Bin ich gerade wirklich im Kontakt – oder schon im Deutungsmodus?
- Was geschieht gerade zwischen uns – und was daran trage ich mit?
- Wo bewerte ich (noch) – obwohl ich beschreiben wollte?
- Was macht mir an der Haltung meines Gegenübers Mühe – und was sagt das über mich?
Den Moment nutzen – Haltung in der Intervention
Gemeinsam tanzen | Kraftvolle Leichtigkeit
In der Veränderungsbegleitung kann es also keine vorgefertigten Drehbücher geben. Es geht vielmehr um die Fähigkeit, den Moment lesen zu können, um angemessen darauf zu reagieren. Nicht vorschnell. Nicht mechanisch. Sondern mit Gespür und innerer Klarheit. Denn keine systemische Intervention ist bloß eine Technik. Sie ist Ausdruck einer Haltung, die sich in der Situation zeigt – in der Frage, im Innehalten, im Humor, in der Irritation. Und manchmal auch im bewussten Nicht-Tun. Systemische Wirksamkeit entsteht im Zwischenraum – nicht im Methodenkoffer.
Die Kunst des situativen Pendelns: Mitschwingen oder Dazwischengehen?
Systemische Berater*innen bewegen sich dadurch immer auch in einem Spannungsfeld zwischen Ankoppeln und Irritieren, zwischen Mitschwingen und Dazwischengehen. Mitschwingen bedeutet: sich einstimmen auf das System, seine Sprache, seine Dynamik. Dazwischengehen heißt: bewusst eine Unterbrechung setzen, ein Muster irritieren. Intervenieren. Die zentrale Kompetenz ist hier nicht die Entscheidung für das eine oder das andere – sondern die Spielfähigkeit im Wechsel. Die Fähigkeit, zwischen beiden Polen zu navigieren, situativ zu wechseln, flexibel zu reagieren.
Ein hilfreiches Bild ist das des Tanzes mit dem System. Wer führt? Wer folgt? Manchmal ist es klug, sich mit der Bewegung treiben zu lassen – um Vertrauen zu schaffen, um zu verstehen, wie das System tickt.
Manchmal braucht es den mutigen Schritt zur Seite, der kurz irritiert – und damit den Takt unterbricht. Gelingt das Spiel zwischen Nähe und Unterbrechung, entsteht ein dialogischer Raum, in dem sich das System selbst beobachten kann.
Ein Praxisbeispiel:
In einem Teamcoaching wirkt das Team engagiert – aber es bleibt irgendwie latent an der Oberfläche. Alles ist „eigentlich ganz gut“. Es wird viel gelächelt, mitgemacht, zugestimmt, unterstützt. Der Impuls, mitzuschwingen, ist attraktiv. Und doch: Irgendetwas bleibt uneingelöst. Als Beraterin entscheide ich mich für ein behutsames Dazwischengehen: „Ich nehme wahr, dass hier sehr viel Einigkeit herrscht. Ich frage mich, ob es auch etwas gibt, das im Moment nicht gesagt wird?“ Ein kurzer Moment der Stille. Und plötzlich verändert sich etwas. Durch Dazwischengehen statt Mitschwingen.
Die Fähigkeit, zwischen Mitschwingen und Unterbrechen zu wechseln, braucht eine weitere Haltung: Leichtigkeit. Auch hier wieder nicht im Sinne von Oberflächlichkeit – sondern als innere Flexibilität. Die Bereitschaft, auch das Schwere nicht zu dramatisieren. Vielleicht mit einem Augenzwinkern zu irritieren und zu öffnen. Denn manchmal ist der entscheidende Impuls nicht die tiefe Analyse – sondern der kleine Perspektivwechsel, der Unerwartetes ermöglicht. „Das scheint ja eine echte Leidenschaft bei Ihnen auszulösen… was wäre denn die nächste Eskalationsstufe?“ Leichtigkeit schafft Spielraum. Und Veränderung braucht Spielraum.
Die Haltung dahinter: Wirksamkeit ohne Kontrolle. Wer systemisch arbeitet, weiß: Ich kann nichts erzwingen – aber vieles ermöglichen. Ich wirke nicht, indem ich durchsetze, sondern indem ich anbiete. Ich gestalte und halte Räume, aber füllen muss sie das System selbst. Das verhindert, dass Interventionen als Eingriff gesehen werden und sie als Einladung verstanden werden kann.
Impulsfragen zur Selbstreflexion:
- Wo neige ich dazu, zu lange mitzuschwingen – aus Angst, zu stören?
- Wo unterbreche ich zu früh – aus Ungeduld oder dem Wunsch nach Wirkung?
- Woran erkenne ich, dass ein Moment „reif“ für eine Irritation ist?
- Wie sicher bin ich in meiner inneren Beweglichkeit zwischen Nähe und Konfrontation?
Haltung kultivieren ohne je ganz fertig damit zu sein.
Systemische Haltung ist kein Set aus Tugenden, die man irgendwann besitzt. Sie ist ein kontinuierlicher Lernprozess, eine Anreicherung von Erfahrungen und ein innerer Muskel, den ich trainieren kann. Wer Change professionell begleiten will, braucht nicht nur Prozesse, Tools und Fachwissen. Sondern die Fähigkeit, sich selbst zu führen. Die eigene Haltung immer wieder zu reflektieren, zu schärfen – und vor allem: zu leben.
„Systemisch handeln beginnt damit, systemisch zu schauen – und das beginnt mit Haltung.“

Gründerin & CEO Campus am See & CHANGE COLLECTIVE
Ausbilderin | Lehrcoach | Executive Coach | Change-Expertin