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Intuition im Coaching: Bauchgefühl oder Bias?

2. April 2025

Bauchgefühl oder Bias? Die Rolle der Intuition im Coaching

Not every instinct is intuition.

Change Management Ausbildung Leitfaden

Es gibt diese Momente im Coaching, in denen ich einen feinen, aber entscheidenden Widerspruch wahrnehme. Der Coachee erzählt etwas, das auf den ersten Blick schlüssig klingt – und doch signalisiert mir etwas anderes, dass hier noch nicht die ganze Wahrheit auf dem Tisch liegt.

Vielleicht ist es ein minimaler Bruch in der Körpersprache, eine verzögerte Reaktion oder ein Wort, das im Gesamtkontext nicht ganz passt. Mein Verstand sagt: Die Antwort ist plausibel, geh weiter. Doch meine Erfahrung sagt: Halt inne. Prüfe nach. Hier könnte ein Schlüsselmoment liegen. 

Als erfahrener systemischer Coach weiß ich, dass es sich lohnt, solchen Impulsen nachzugehen. Ich habe unzählige Male erlebt, dass genau dort, wo ich intuitiv aus dem geplanten Ablauf ausschere, wichtige Erkenntnisse entstehen. Und doch kenne ich auch diese Stimme im Hinterkopf, die sich fragt, ob es gerade wirklich eine gute Idee ist, den Prozess zu verlassen. 

Insbesondere durch meine Rolle als Ausbilderin denke ich manchmal: Was würden meine Coaching-Teilnehmenden jetzt wohl denken, wenn sie mich beobachten könnten? Schließlich lehren wir in der Ausbildung einen strukturierten, fundierten Prozess – und ich folge gerade einfach meinem Gefühl? 

Intuition im Coaching ist eine feine Gratwanderung. Sie kann ein unglaublich wertvolles Werkzeug sein – aber sie hat auch Schattenseiten. Und genau darüber lohnt es sich, heute mal genauer nachzudenken. 

Was ist eigentlich Intuition – und was nicht? 

Gerd Gigerenzer beschreibt Intuition als „ein Urteil, das rasch im Bewusstsein auftaucht, dessen tiefere Gründe uns nicht ganz bewusst sind und das stark genug ist, um danach zu handeln.“ Klingt fast ein bisschen nach Magie. Ist es aber nicht. 

Unsere Intuition basiert auf unbewusster Mustererkennung. Unser Gehirn hat im Laufe unseres Lebens unzählige Erfahrungen gesammelt – kleine Puzzlestücke von Erlebnissen, Beobachtungen, Erinnerungen. Und wenn wir in einer neuen Situation sind, gleicht unser Gehirn diese mit bekannten Mustern ab. Das geschieht in Millisekunden, ohne dass wir es bewusst steuern. 

Doch systemtheoretisch betrachtet ist Intuition weit mehr als eine schnelle Entscheidungshilfe. In der Systemtheorie nach Niklas Luhmann operieren Systeme nach dem Prinzip der Selbstreferenz – sie können nur auf Informationen reagieren, die sie mit ihren eigenen Strukturen verarbeiten können. Ein Coach kann also nicht „neutral“ wahrnehmen, sondern immer nur aus seiner eigenen Geschichte, seinem Erfahrungshorizont und seinen eigenen Unterscheidungsmustern heraus. 

Das bedeutet: Intuition ist kein objektives Wissen, sondern eine individuelle, systemintern erzeugte Reaktion. Sie ist geprägt von unseren eigenen kognitiven Landkarten, also den inneren Modellen, mit denen wir die Welt wahrnehmen. 

Intuition als Ausdruck von Strukturdeterminismus

Ein weiteres zentrales Prinzip der Systemtheorie ist der Strukturdeterminismus (Maturana & Varela): Ein System kann nur das aufnehmen und verarbeiten, was in seinen bestehenden Strukturen Sinn ergibt. Übersetzt ins Coaching heißt das: Unsere Intuition ist nicht „allwissend“, sondern sie folgt den Strukturen, die wir uns über Jahre angeeignet haben. 

  • Ein Coach mit langjähriger Erfahrung in Unternehmen wird in einem Coaching intuitiv auf organisationale Dynamiken achten. 
  • Ein Coach mit psychotherapeutischem Hintergrund wird vielleicht stärker auf emotionale Muster und unbewusste Prozesse fokussiert sein. 
  • Ein systemischer Coach wird möglicherweise schneller Wechselwirkungen und systemische Zusammenhänge intuitiv erfassen. 

Unsere Intuition ist also keine universelle Wahrheit, sondern eine individuelle Konstruktion – geformt durch unsere Erfahrungen, unsere Ausbildung und unser Umfeld. 

Das erklärt auch, warum intuitive Entscheidungen oft so treffsicher erscheinen: Wir sind in unserer eigenen Systemlogik meist ziemlich gut! Doch genau hier liegt auch die Gefahr: Wir neigen dazu, unsere Intuition mit objektiver Erkenntnis zu verwechseln. 

Intuition und Heuristiken: Wenn unser System Abkürzungen nimmt

Intuition ist also nicht das Gegenteil von Wissen – sondern eine Form von hochverdichtetem Erfahrungswissen. Sie greift auf sogenannte Heuristiken zurück, also mentale Abkürzungen, die uns helfen, schnell Entscheidungen zu treffen: 

  • Rekognitionsheuristik – Wir vertrauen eher auf Bekanntes als auf Unbekanntes. 
  • Gedankenleseheuristik – Wir interpretieren Stimmungen und Absichten anhand von Mimik und Körpersprache. 
  • Take-the-best-Heuristik – Wir suchen nach einem einzelnen, entscheidenden Unterschied zwischen Optionen, statt alle Faktoren abzuwägen. 

Diese Faustregeln sind oft erstaunlich treffsicher – aber nicht unfehlbar. Sie funktionieren besonders gut, wenn sie mit den Umweltstrukturen übereinstimmen, in denen wir sie gelernt haben. In neuen, ungewohnten Kontexten hingegen kann unsere Intuition in die Irre führen – weil unser System dann mit Mustern arbeitet, die möglicherweise nicht zum aktuellen Kontext passen. 

Systemisch betrachtet ist Intuition also eine hochwirksame, aber eben auch selektive Wahrnehmung. Sie ist nicht losgelöst von unserem Kontext, sondern ein Produkt unseres Systems. Und genau deshalb lohnt es sich, sie immer wieder zu hinterfragen. 

Die Gratwanderung: Intuition vs. Interpretation

In meiner Arbeit als Coach verlasse ich mich oft auf meine Intuition. Ich nehme wahr, was im Raum geschieht, wie sich die Energie verändert, wie mein Coachee auf bestimmte Fragen reagiert. Manchmal sind es nur Nuancen – ein winziges Zögern in der Stimme, ein Atemzug mehr als nötig –, die mich spüren lassen: Hier liegt noch etwas verborgen. 

Doch hier liegt auch die Gefahr: Ist es wirklich Intuition – oder ist es meine eigene Interpretation? 

Ein klassisches Beispiel: Ein Coachee erzählt von einer schwierigen Entscheidung, und plötzlich spüre ich eine innere Resonanz. Vielleicht erinnert mich die Situation an eine eigene Erfahrung. Vielleicht löst sie ein Gefühl in mir aus, das mit mir zu tun hat – nicht mit dem Coachee. Wenn ich das nicht reflektiere, laufe ich Gefahr, meine eigene Geschichte auf die Situation zu projizieren. 

Gerade in der Coaching-Ausbildung sehe ich oft, wie Teilnehmende ihre Intuition entdecken – und sich gleichzeitig fragen: Darf ich dem vertrauen? Oder ist das nur mein eigenes Denken, das sich tarnt? 

Die systemische Haltung hilft hier enorm: Statt meiner Intuition blind zu folgen, nutze ich sie als Hypothese. Ich nehme wahr, was sie mir signalisiert – und überprüfe dann, ob es für den Coachee wirklich relevant ist. 

Intuition als Hypothesenarbeit: Zwischen Resonanz und Projektion

Im systemischen Coaching arbeiten wir mit Hypothesen, nicht mit Wahrheiten. Das bedeutet: Auch meine Intuition ist keine Erkenntnis, sondern eine Annahme, die ich überprüfe. Ein innerer Impuls kann ein wertvoller Hinweis sein – aber erst durch eine offene, explorative Haltung wird er wirklich nützlich. 

  • Resonanz bedeutet nicht automatisch, dass ich „recht habe“ – sondern dass hier etwas sein könnte, das es wert ist, erforscht zu werden. 
  • Meine Hypothesen gehören mir – sie sind Angebote, keine Diagnosen. 
  • Die beste Hypothese ist die, die ich jederzeit bereit bin zu verwerfen. 

Wenn ich intuitiv spüre, dass eine bestimmte Frage, eine Irritation oder eine Idee auftaucht, stelle ich mir innerlich die Frage: Handelt es sich um eine wertvolle Hypothese – oder um meine eigene Projektion? Der Unterschied liegt in meiner Bereitschaft, mich korrigieren zu lassen. 

Intuition ist dann besonders wirkungsvoll, wenn sie ein Ausgangspunkt für systemisches Erkunden ist – und nicht für vorschnelle Schlüsse. 

Wann Intuition versagt: Die Panikzone

So wertvoll Intuition ist – sie hat eine entscheidende Schwachstelle: Unter Stress funktioniert sie nicht mehr. 

In der Panikzone schaltet unser Gehirn auf Autopilot. Es verlässt sich nicht mehr auf unbewusste Mustererkennung, sondern greift auf alte, oft überlebensbedingte Reaktionsmuster zurück. Fight, Flight oder Freeze. 

Ein Beispiel dafür sind Extremsituationen, in denen Menschen sich später fragen: Was war das denn? Warum habe ich so reagiert? Das bin doch gar nicht ich! Ein erfahrener Bergsteiger, der genau weiß, wie er bei einem plötzlichen Wetterumschwung handeln sollte, gerät in Panik und trifft eine fatale Entscheidung. Ein Pilot, der hunderte Flugstunden hinter sich hat, reagiert im Notfall irrational und ignoriert eigentlich vertraute Abläufe. 

Diese Menschen sind nicht unerfahren oder schlecht ausgebildet – ihr System hat in einem Moment hoher Belastung schlicht den Zugang zu den gewohnten Denk- und Handlungsprozessen verloren. Ihre Intuition ist nicht mehr die feine, treffsichere Mustererkennung – sie ist zu einer unbewussten Stressreaktion geworden. 

Diese Dynamik zeigt sich auch in Organisationen und Führungskontexten. 

Führung unter Druck: Wenn Intuition zum Feind wird

Auch Führungskräfte treffen unter Stress oft Entscheidungen, die sie später bereuen – nicht, weil sie „falsch nachgedacht“ haben, sondern weil ihr System schlicht auf Notfallmodus geschaltet hat. 

Systemtheoretisch betrachtet ist jede Organisation ein komplexes System mit eigenen Mustern, Kommunikationslogiken und Entscheidungskulturen. Führungskräfte agieren nicht als isolierte Individuen, sondern als Teile dieses Systems. In Stresssituationen aktiviert ihr Gehirn nicht mehr die Fähigkeit zur Mustererkennung, sondern fällt in überlernte Reaktionsmuster zurück, die oft aus früheren Erfahrungen oder organisationalen Gewohnheiten stammen: 

  • Ein CEO, der in einer Krise reflexartig noch mehr Kontrolle ausübt, obwohl gerade jetzt dezentrale Entscheidungen gefragt wären. 
  • Eine Führungskraft, die in Konfliktsituationen auf Sachlichkeit pocht, während ihr Team eigentlich emotionale Klärung bräuchte. 
  • Ein Manager, der in Veränderungsprozessen immer wieder auf altbewährte Methoden zurückgreift, weil Unsicherheit sein System in den Autopilot zwingt. 

Was in solchen Situationen oft als „intuitiv richtig“ empfunden wird, ist tatsächlich ein Abruf vergangener Muster, die nicht unbedingt zur aktuellen Situation passen. 

Hier wird deutlich: Intuition ist nur dann ein hilfreiches Führungsinstrument, wenn sie in einem Zustand von Reflexionsfähigkeit eingesetzt wird. Unter hoher emotionaler oder zeitlicher Belastung neigt unser System jedoch dazu, nicht mehr zwischen Intuition und erlernten Reflexen zu unterscheiden. 

Die Kunst der wachen Präsenz

Ob als Coach oder als Führungskraft: Die entscheidende Fähigkeit ist nicht, immer intuitiv richtig zu liegen, sondern zu erkennen, wann die eigene Intuition verlässlich ist – und wann sie durch Stress, Muster oder persönliche Prägungen verzerrt wird. 

Systemisch betrachtet bedeutet das, sich selbst als Teil des Systems zu sehen. Wenn mein Zustand als Coach oder Führungskraft von Angst, Unsicherheit oder Druck geprägt ist, wird meine Intuition genau diese Zustände widerspiegeln. 

Die Kunst ist es also, Intuition in einem Zustand der wachen Präsenz zu nutzen – nicht in einem Zustand der Überforderung. Das bedeutet: 

  • Die eigenen körperlichen und emotionalen Signale bewusst wahrnehmen. 
  • Zwischen echter Intuition und automatisierten Reaktionsmustern unterscheiden. 
  • Sich in Stressmomenten regulieren, bevor man „intuitiv“ handelt. 
  • Immer wieder hinterfragen: Handele ich aus einem freien, klaren Zustand – oder aus einem überlernten Reflex? 

Denn Intuition ist nicht nur eine Fähigkeit – sie ist immer auch ein Ausdruck unseres aktuellen inneren Zustands. 

Der Begriff „überlernt“ bedeutet übrigens, dass eine bestimmte Denk- oder Handlungsweise so oft wiederholt und verinnerlicht wurde, dass sie automatisch und unbewusst abläuft – selbst dann, wenn sie nicht mehr passend oder hilfreich ist. Systemtheoretisch betrachtet, sind überlernte Muster stabile Strukturen innerhalb eines Systems. Sie geben kurzfristig Sicherheit, können aber auch Flexibilität und situative Anpassung verhindern. 

Kritische Perspektiven: Warum Intuition nicht immer klug ist

Intuition wird oft als „höhere Weisheit“ verkauft – aber sie darf trotzdem wohl dosiert genossen werden, denn sie hat auch Blinde Flecke. Daniel Kahneman, der Begründer der Verhaltensökonomie, hat gezeigt, dass in unserem intuitiven Denken auch systematische Fehler stecken. 

Ein Beispiel: Framing-Effekte. 

  • „Diese Operation hat eine Überlebensrate von 95%.“ (negatives Framing) 
  • „Diese Operation hat eine Sterberate von 5%.“ (positives Framing) 

 

Beide Aussagen sind mathematisch identisch – und trotzdem fühlen sie sich komplett unterschiedlich an. Unser Gehirn reagiert intuitiv auf die Formulierung, nicht auf den Inhalt. 

Im Coaching kann genau das passieren: Unsere Intuition wird von der Wortwahl, der Körpersprache oder sogar unserer eigenen Stimmung beeinflusst. Und plötzlich denken wir, wir wissen, worum es beim Coachee geht – dabei haben wir nur einem Denkfehler aufgesessen. 

Fazit: Intuition als systemisches Werkzeug – aber mit hohem Bewusstsein

Intuition ist also ein mächtiges Werkzeug im Coaching – wenn wir sie als das nutzen, was sie wirklich ist: eine hochentwickelte Fähigkeit zur Mustererkennung, aber auch ein Produkt unserer eigenen Systemlogik. Sie ist kein magischer Shortcut zur Wahrheit, sondern eine wertvolle Hypothese, die wir reflektieren und in den Coaching-Prozess einbetten müssen. 

Im systemischen Denken bedeutet das: Intuition entsteht nie im luftleeren Raum. Sie ist immer eingebunden in unsere Erfahrungen, unsere blinden Flecken und die Strukturen, in denen wir arbeiten. Genau deshalb ist es so wichtig, sie nicht als unmittelbare Erkenntnis zu deuten, sondern als Impuls, den wir mit professioneller Distanz prüfen dürfen. 

Wenn wir das tun, wird Intuition zu einer echten Ressource – nicht als Gegenspielerin von Logik, sondern als ergänzendes Werkzeug in einem bewussten, reflektierten Coaching-Prozess. 

Gründerin & CEO Campus am See & CHANGE COLLECTIVE
Ausbilderin | Lehrcoach | Executive Coach | Change-Expertin

 

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