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Warum Typentests oft mehr schaden als nützen

23. Januar 2025

Menschen in vier Farben?

Warum Typentests oft mehr schaden als nützen

Change Management Ausbildung Leitfaden

Vor einiger Zeit habe ich auf LinkedIn einen Beitrag über Typentests verfasst – und die Resonanz war ziemlich enorm. Zahlreiche Kommentare, Nachrichten und Diskussionen haben mir gezeigt: Das Thema bewegt. Viele haben gefragt:

  • Sind solche Tests denn wirklich so problematisch?
  • Gibt es nicht auch Vorteile?
  • Wie können wir sinnvoll mit ihnen umgehen?

Diese Fragen möchte ich in diesem Blogartikel aufgreifen – und zwar aus einer systemischen Perspektive. Denn als systemische Coach und Change-Expertin weiß ich: So verführerisch es auch sein mag, Menschen in einfache Kategorien einzuteilen – es wird ihrer Komplexität einfach nicht gerecht.

Die Sehnsucht nach Ordnung – und warum sie so trügerisch ist

Es ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis: Wir wollen andere Menschen verstehen, vorhersagen, wie sie sich verhalten, und unser eigenes Handeln darauf abstimmen. Unser Gehirn liebt Muster und klare Strukturen – denn sie geben uns ein Gefühl von Sicherheit.

Und genau hier setzen Typentests in der Regel an. Sie reduzieren Persönlichkeiten oft auf wenige Dimensionen, gerne symbolisiert durch Farben (z.B. Rot, Gelb, Grün, Blau). Das klingt alles erst einmal eingängig, leicht verständlich und wunderbar übersichtlich. Aber entspricht das dann auch der Realität?

Unser Wunsch nach Klarheit führt uns schnell mal in die Irre. Die Welt ist komplex und wird immer komplexer, Menschen sind es erst recht. Soziale Systeme wie Teams oder Organisationen leben von dynamischen Wechselwirkungen – und ein statisches Raster wird dieser Komplexität niemals gerecht.

Wenn wir Menschen also auf eine Farbe oder einen Typ reduzieren, ignorieren wir, dass wir Menschen immer kontextabhängig agieren. Das führt nicht nur zu Fehleinschätzungen, sondern kann auch das Miteinander und die persönliche Entwicklung äußerst negativ beeinflussen.

Die systemische Perspektive hilft zu verstehen, warum Menschen keine statischen Typen sein können

In der Systemtheorie betrachten wir Menschen nicht als isolierte Individuen, sondern als Teil eines größeren Gefüges – eines Systems, das aus Wechselwirkungen, Kontexten und Dynamiken besteht.

1. Verhalten ist kontextabhängig

Kein Mensch verhält sich immer gleich. Unsere Persönlichkeit zeigt sich je nach Situation und Rolle unterschiedlich:

  • Eine Führungskraft kann im Teammeeting analytisch und strukturiert (blau) sein, aber in einem Innovations-Workshop kreativ und impulsiv (gelb).
  • Jemand kann im Beruf durchsetzungsstark (rot) sein, im privaten Umfeld aber eher harmonieorientiert (grün).
  • Ein zurückhaltender Mitarbeiter in einem hierarchischen Unternehmen kann in einer offenen, agilen Umgebung plötzlich ganz anders agieren.

Kurz gesagt: Menschen sind nicht statisch – sie sind dynamisch. Typentests ignorieren diese Wechselwirkungen oft. Sie suggerieren eine Konstanz, die es so nicht gibt.

2. Menschen passen sich ihrem System an

Ein zentrales Konzept der Systemtheorie ist die Zirkularität – das heißt, Menschen beeinflussen ihr Umfeld, und ihr Umfeld beeinflusst sie. Ein Team, das Innovation bestraft, wird dazu führen, dass selbst kreative Menschen irgendwann vorsichtig agieren.

Wenn nun ein Typentest besagt: „Du bist ein analytischer Typ“, dann ignoriert das, dass diese Eigenschaft in einem anderen Umfeld womöglich gar nicht so stark zum Tragen kommt.

3. Die Selbstwahrnehmung verändert sich

Viele Typentests beruhen auf Selbsteinschätzung. Das bedeutet, dass die Ergebnisse stark davon abhängen, wie wir uns selbst gerade sehen. Doch:

  • Unsere Selbstwahrnehmung ist nicht objektiv.
  • Sie verändert sich je nach Situation, Lebensphase und Feedback von anderen.

Ein Mensch, der sich heute als introvertiert einstuft, kann sich in fünf Jahren ganz anders erleben – abhängig von seinen Erfahrungen und seinem Umfeld.

Die Tücken der Typisierung: Warum Labels gefährlich sein können

Natürlich können Typentests hilfreich sein – etwa, um einen ersten Gesprächsanstoß zu bieten oder schwer greifbare Unterschiede zu benennen. Doch die Risiken sollten wir dabei immer im Hinterkopf behalten:

1. Schubladendenken („So bist du eben!“)

Wenn jemand einmal als „der Rote“ oder „der Blaue“ abgestempelt wurde, ist es meist sehr schwer, dieses Label wieder loszuwerden. Solche Kategorisierungen führen dazu, dass wir Menschen in festgelegten Bahnen sehen – und sie selbst sich auch.

  • „Ach, du bist also Rot – kein Wunder, dass du so dominant bist!“
  • „Der ist Grün, der wird sich bestimmt nicht durchsetzen können.“

Wir sehen schon bei diesen simplen Beispielen, wie diese Denkmuster Entwicklungen blockieren können.

2. Selbsterfüllende Prophezeiungen („Ich bin halt so“)

Viele Menschen übernehmen ihre Typisierung unbewusst als Identität:

  • „Ich bin halt nicht empathisch.“
  • „Ich kann mit Zahlen nicht umgehen.“
  • „Ich bin kein kreativer Typ.“

Solche Überzeugungen können zu einer statischen Selbstwahrnehmung führen, die verhindert, dass wir uns weiterentwickeln.

3. Verzerrte Ergebnisse durch soziale Erwünschtheit

Viele Tests beruhen auf Fragebögen, in denen Menschen sich selbst einschätzen. Aber wenn wir ganz ehrlich sind: Wer gibt denn schon gerne zu, dass er konfliktscheu, selbstzentriert oder unstrukturiert ist?

Dadurch entstehen verzerrte Ergebnisse, die weniger über die tatsächliche Persönlichkeit aussagen, sondern eher darüber, wie jemand gerne gesehen werden möchte.

4. Der Kontext fehlt

Typentests tun oft so, als seien Persönlichkeitseigenschaften universell – dabei sind sie stark abhängig vom jeweiligen Kontext.

  • Ein impulsiver Mensch mag in einem kreativen Startup hervorragend funktionieren, aber in einer streng hierarchischen Behörde als unangepasst gelten.
  • Jemand, der in einem harmonischen Team als „sehr direkt“ wahrgenommen wird, kann in einem wettbewerbsorientierten Umfeld als eher zurückhaltend erscheinen.

Die Persönlichkeit zeigt sich also immer im Zusammenspiel mit dem jeweiligen Kontext, auf den sich die Fragen beziehen – und genau diese Kontext-Variablität blenden Typentests aus.

Was stattdessen viel hilfreicher ist: Arbeit mit Hypothesen statt mit Etiketten

Heißt das nun, wir sollten alle Tests in die Tonne werfen? Nein, das muss nicht unbedingt sein. Aber wenn wir sie nutzen, sollten wir sie mit der entsprechenden Haltung nutzen und klar und transparent kommunizieren, was unsere Idee beim Einsatz des Tools ist

Eine kluge Alternative ist dabei das systemische Arbeiten mit Hypothesen statt mit Kategorien.

Das bedeutet:

  • Testergebnisse als Ausgangspunkt sehen – nicht als Endpunkt. Statt zu sagen: „Du bist eben so“, fragen wir: „In welchen Situationen zeigst du diese Eigenschaften? Und wo vielleicht nicht? Was sagt das über dich und deine aktuellen Herausforderungen aus“
  • Bewusst nach Gegenbeweisen suchen. Wenn ein Test sagt, jemand sei wenig empathisch suchen wir Systemiker gerne nach Ausnahmen: „Wann war das schon mal anders? Welche Situationen gab es in der Vergangenheit, in denen du schon mal empathischer warst, als es dir aktuell erscheint? Wer in deinem Umfeld würde dein Empathievermögen vielleicht ganz anders einschätzen als du selbst?“
  • Den Kontext mitdenken. Warum zeigt sich jemand in einem bestimmten Umfeld dominant und in einem anderen zurückhaltend? „In welchem Kontext hast du dich schon mal anders erlebt? Was glaubst du, waren und sind deine guten Gründe dafür?“

Statt Testergebnisse als endgültige Wahrheiten zu betrachten, sollten wir sie viel eher als Arbeitshypothesen nutzen und dann aktiv nach Gegenbeweisen suchen.

Fazit: Menschen sind mehr als ihre Farbe

Persönlichkeitsdiagnostik kann nützlich sein – wenn sie als Werkzeug und nicht als Wahrheit betrachtet wird. Die größte Gefahr liegt darin, Menschen auf starre Kategorien zu reduzieren und ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu begrenzen.

Aus systemischer Sicht gilt: Menschen entfalten sich in Beziehungen, Kontexten und durch Erfahrungen – nicht durch Etiketten.

Deshalb wäre mein Wunsch: Schauen wir, dass wir lernen, die Vielfalt menschlicher Persönlichkeit anzuerkennen und wertzuschätzen, anstatt sie in Farben oder Schubladen zu pressen. Wahres Verständnis für das Gegenüber entsteht weniger durch Tests – sondern vielmehr durch echtes Zuhören, Offenheit und gemeinsame Reflexion.

Gründerin & CEO Campus am See & CHANGE COLLECTIVE
Ausbilderin | Lehrcoach | Executive Coach | Change-Expertin

 

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