Von Schleifenarbeit und Exposition mit Haltung
Führung ist kein Trend – sondern Zumutung mit Wirkung
Von Führung wird heute viel verlangt. Vielleicht zu viel. Und gleichzeitig wird oft übersehen, worum es im Kern eigentlich geht: Nicht um Purpose, sondern um Verantwortung in Unsicherheit. Ein Plädoyer für Führung als Arbeit am Wesentlichen und gegen den Irrglauben, dass man Menschen nur „richtig motivieren“ müsse, um Organisationen zukunftsfähig zu machen.
Alles, was Führung heute sein soll
Führung soll heute vieles sein: modern, agil, sinnstiftend. Sie soll Menschen abholen, aber auch fordern. Sie soll Orientierung geben, aber niemandem etwas „überstülpen“. Sie soll Veränderung begleiten, ohne zu überfordern. Und am besten: immer auf Augenhöhe. Klingt gut. Und auch ein bisschen unmöglich. Denn meist erlebe ich Führungskräfte, die sich an zu vielen Anforderungen, aufreiben. Da treffen die alten Erwartungen (Zahlen, Leistung, Ergebnisse) auf neue Imperative (Empathie, Feedback, Selbstorganisation). Da soll ich führen – aber bitte nicht hierarchisch. Entscheiden – aber möglichst partizipativ. Mich kümmern – aber nicht kontrollieren. Vielleicht ist es an der Zeit, einmal innezuhalten und zu fragen: Wofür gibt es Führung eigentlich? Und was genau ist ihre Aufgabe?
Führung tritt auf den Plan, wenn Strukturen versagen
Ein oft übersehener Gedanke aus der Systemtheorie ist dieser: Führung braucht es nur dort, wo etwas nicht von allein läuft. In stabilen, geregelten Strukturen braucht es keine Führungskraft, sondern gutes Management. Prozesse, Rollen, Verantwortlichkeiten regeln das meiste. Erst wenn die Routinen versagen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, wenn niemand so recht weiß, wie weiter, dann entsteht Führung. Führung tritt auf den Plan in Erwartungsunsicherheit. Dann, wenn ein Vakuum entsteht, in dem niemand genau weiß, wie zu entscheiden ist und wer es tun soll. Dann braucht es jemanden, der sich exponiert. Der Verantwortung übernimmt. Der (im besten Fall) Orientierung gibt.
Deshalb nannte Niklas Luhmann Führungskräfte die „Lückenbüßer der Organisation“. Ihre Arbeit beginnt dort, wo Prozesse enden. Sie füllen die strukturellen Leerstellen mit Verantwortung, Entscheidung und Präsenz. Man könnte also sagen: Führung ist keine Funktion, sondern ein Ereignis.

Führung ist Schleifenarbeit
Gute Führung erkennt man selten an heroischen Reden oder inspirierenden Leitbildern. Sondern an der Qualität der Denk- und Entscheidungsprozesse. Ein einfaches, aber wirkungsvolles Modell systemischer Führung ist die Führungsschleife (nach Timm Richter und Thorsten Groth):
1. Identifizieren – Wo liegt das Problem? Was ist der Unterschied zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand? Welche Hypothesen habe ich dazu?
2. Entscheiden – Was ist jetzt die passende Maßnahme? Welche Optionen habe ich? Welche Wirkung ist zu erwarten?
3. Umsetzen – Wie bringe ich es in die Organisation? Welche Hindernisse sind zu erwarten und wie räume ich sie aus dem Weg?
Was simpel klingt, ist in der Praxis selten gelebte Praxis. Häufig wird entschieden, ohne sauber zu identifizieren und zu analysieren. Oder es wird umgesetzt, ohne eine bewusste Wahl getroffen zu haben. Oder: Man identifiziert, diskutiert, analysiert und kommt nicht ins Tun. Gute Führung erkennt man daran, dass alle drei Schleifen immer wieder bewusst vollzogen werden.

Vier Perspektiven auf Führungshandeln
Führung ist dabei nie eindimensional. Sie ist ein Zusammenspiel unterschiedlicher Aufgaben, Spannungsfelder und Haltungen. Ein Modell, das ich für sehr hilfreich halte, unterscheidet vier zentrale Dimensionen des Führungshandelns:
BUILD – Kluge Strukturen bauen
Führung bedeutet vor allem: Verhältnisse schaffen. Rahmenbedingungen gestalten. Die Wahrscheinlichkeit für erwünschtes Verhalten erhöhen. Wer hier stark ist, denkt konzeptionell und systemisch: Welche Prozesse, Rollen oder Vereinbarungen helfen uns wirklich weiter und welche stehen uns eher im Weg?
DIRECT – Für Richtung sorgen
Hier geht es um Zukunft, Ausrichtung, strategische Klarheit. Führungskräfte, die in dieser Dimension stark sind, stellen sich Fragen wie: Wo wollen wir hin? Was brauchen wir heute, um morgen noch relevant zu sein? Sie sind Denkerinnen und Navigatorinnen und berücksichtigen neben dem WAS auch das WIE.
LEAD – Menschen gewinnen
Führen heißt auch: Beziehungsarbeit. Menschen ins Boot holen. Verantwortung ermöglichen. Diese Dimension lebt von Präsenz, Dialog und Vertrauen. Die zentrale Frage lautet hier: Wie können wir andere inspirieren, Verantwortung zu übernehmen?
MANAGE – Dinge geregelt bekommen
Manche nennen es operative Exzellenz. Ich nenne es: das Rückgrat des Tagesgeschäfts. Hier zeigt sich, ob Führung handlungsfähig ist oder nur schöne Pläne macht. Was müssen wir tun, um Teams arbeitsfähig zu halten? Welche Hindernisse müssen wir antizipieren und beseitigen? → Keine Führungskraft ist in allen vier Feldern gleich stark. Muss sie auch nicht. Wichtig ist, bewusst zu navigieren und auch zu delegieren und nicht alles gleichzeitig sein zu wollen.
Der große Hebel: Strukturen statt Verhalten
Einer der wirkmächtigsten Denkfehler in der Führungsarbeit ist: Wir versuchen, Menschen zu verändern, statt die Bedingungen, unter denen sie handeln. Viele Organisationen starten ihre Change-Initiativen mit der Idee, „die Mitarbeitenden abzuholen“, zu motivieren oder „durch Coaching zu begleiten“. Es sind wichtige Faktoren, aber nicht die entscheidenden. Denn: Nicht die Menschen sind das Problem. Sondern die Verhältnisse.
Unternehmen, die genau diesen Perspektivwechsel vollziehen, entscheiden sich – insbesondere bei Change- und Transformationsvorhaben – immer auch, die eigenen Strukturen auf den Prüfstand zu stellen: Welche Regeln, Prozesse, oder Vergütungssysteme demotivieren beispielswese, ohne dass wir es merken? Das Ergebnis davon ist oft: Erst einmal ausmisten. Verschlankung komplizierter Antragsprozesse. Abschaffung von Provisionssystemen, die in der Regel sowieso nur interne Konflikte schüren (einer der wichtigsten Demotivatoren in Unternehmen…). Auflösung vertikaler Bereichsgrenzen zugunsten regionaler Verantwortung. Manchmal dann gar keine riesige Transformation mehr, sondern wirksame Strukturarbeit.
Fazit: Wer sich also wirklich Gedanken über Motivation und Innovationssteigerung machen will, überlegt am besten, wie sich Strukturen so gestalten lassen, dass sie nicht mehr demotivieren. Systemisch denken heißt also: zuerst auf das System schauen, dann auf das Verhalten.
Führung im Wandel: Nicht alles geht weg
In Zeiten des Wandels brauchen Organisationen keinen neuen Führungshype, sondern mehr Klarheit. Und: nicht weniger Hierarchie, sondern eine, die sich situativ begründet. Was wir stattdessen oft erleben: Ein Schwarz-Weiß-Denken, als gäbe es nur „Hierarchie oder Agilität“, „Homeoffice oder Präsenz“, „stark oder empathisch“. Systemisches Denken aber ist ambiguitätstolerant. Es kennt kein „entweder-oder“, sondern fragt: Was passt zu unserem Kontext? Was braucht es jetzt, hier, in diesem System?
Manchmal ist es sinnvoll, Entscheidungsbefugnis ins Team zu geben. Manchmal ist es besser, dass jemand top down klar entscheidet. Manchmal ist Homeoffice effizient. Manchmal blockiert es die kreative Zusammenarbeit. Entscheidend ist nicht das Prinzip, sondern der leistungsorientierte Dialog darüber.
Haltung zeigen: Führung ist Exposition
Führung ist nicht immer angenehm. Sie ist auch keine Komfortzone für Wohlfühlmethoden. Wer führt, muss sich exponieren. Entscheidungen treffen, wo andere zögern. Und aushalten, dass es nicht immer Konsens gibt. Gleichzeitig gilt: Wer Führung verweigert, zwingt andere, in Führung zu gehen, ob sie das wollen oder nicht. Führung bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn man noch nicht alles weiß. Es bedeutet, andere einzuladen, mitzugestalten, aber keinesfalls, sich zu verstecken. Es bedeutet auch: Zumutungen zu machen. Klar zu sein. Sich erklären zu können, ohne ständig alles zu rechtfertigen. Oder in einem Satz:
Führung ist keine Dienstleistung. Sie ist das Sicherstellen, dass das Unternehmen am Markt überlebt unter Einbeziehung von Beziehungsgestaltung in Unsicherheit.
Und jetzt? Führung wird auch in Zukunft keine einfache Aufgabe sein. Aber vielleicht wird sie wieder klarer, wenn wir aufhören, sie mit Anforderungen zu überfrachten und stattdessen auf ihren Kern schauen:
Verantwortung übernehmen in Momenten, in denen Organisationen Orientierung brauchen. Das ist keine Methode und auch keine Mode. Sondern Arbeit. Manchmal harte Arbeit.
Und: Es ist nicht immer sichtbar, aber immer wirksam.

Gründerin & CEO Campus am See & CHANGE COLLECTIVE
Ausbilderin | Lehrcoach | Executive Coach | Change-Expertin